Eigene Ideen - über den Tag hinaus gedacht!


Eigene Ideen zur Gestaltung von Politik zu entwickeln - das ist eine der spannendsten Handlungsfelder meiner Arbeit. An dieser Stelle will ich die Gedanken und Überlegungen veröffentlichen, die auch jenseits tagesaktueller Themen von Interesse sein sollen. Einiges davon habe ich an anderer Stelle - sei es in Medien oder in Form von Publikationen in Zeitschriften oder in Buchform - bereits veröffentlicht. 




Viel mehr als „plus jamais!“ Welche Lehren wir aus der Krise ziehen – die Chance auf einen neuen Aufbruch für die deutsch-französische Grenzregion! 

Roland Theis 


 

Der Schock der Pandemie und ihrer Auswirkungen auf das deutsch-französische Verhältnis sowie die grenzüberschreitenden Beziehungen in unserer Region haben alte und neue Schwächen und Defizite offenbart, deren Beseitigung Aufgabe der Politik in der Region, aber auch in Paris und Berlin sein muss. Die Krise war ein Brennglas auf den derzeitigen Zustand der grenzüberschreitenden Arbeit. Sie hat gezeigt, was gut funktioniert, aber auch, wo sicher geglaubte Kooperationen im Ernstfall versagt haben und nicht zuletzt neue Probleme offengelegt, die den Menschen in den zurückliegenden Monaten das Leben schwergemacht haben. 

Gleichzeitig hat die Pandemie die Relevanz der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit für den Alltag der Menschen in unserer Region deutlich gemacht. Ich selbst habe die Erfahrung machen können, dass die Beschäftigung mit diesen Fragen für einen jungen Abgeordneten selbst im Saarländischen Landtag eher als weniger relevantes Interesse aus Neigung und Nähe zum Thema empfunden wurde denn als Einsatz in einem zentralen und wichtigen Politikfeld. Das Frühjahr 2020 hat das Gegenteil bewiesen. Gute grenzüberschreitende Zusammenarbeit hat im wortwörtlichen Sinne Leben gerettet.  

Die beiden prägenden Bilder des Frühjahrs 2020 werden die geschlossenen Grenzübergänge einerseits und die Helikoptertransporte der französischen Patient*innen nach Deutschland andererseits bleiben. Sie stehen für die besten und die schwierigsten Facetten der Bekämpfung der Pandemie – für Solidarität und Freundschaft statt für das „Rette sich, wer kann“ der ersten Tage. Ersteres hat sich durchgesetzt. Nicht nur im Frühjahr, auch in der zweiten Phase im Oktober 2020 wurden Patient*innen in geringerem Umfang wieder nach Deutschland gebracht und von französischer Seite waren den deutschen Behörden im Dezember Kapazitäten angeboten worden, als es Anfang des Monats kurzfristig nach Engpässen in deutschen Kliniken aussah. Im kollektiven Gedächtnis der Menschen in der Grenzregion werden beide Bilder bleiben. 

Daneben werden die Menschen so schnell nicht die mit Flatterband gesperrte Freundschaftsbrücke zwischen Grossbli und Kleinblittersdorf[i] oder den Baguette-Angler von Lauterbach[ii] vergessen. Und was ist mit all den Bürger*innen, die sich vor der Bundespolizei rechtfertigen mussten, deren meist junge Beamt*innen vor Ort weder unsere Grenzregion kannten noch kontrollierte Binnengrenzen der Europäischen Union zuvor aktiv erfahren haben? Szenen aus dem März und April 2020, die die ganze Absurdität der Situation des Frühjahrs 2020 zeigten. Sie haben uns vor Augen geführt, dass man die deutsch-französische Region und die Menschen, die in ihr leben, nicht voneinander trennen kann. Für die Analyse der Auswirkungen der Pandemie auf das deutsch-französische Verhältnis in der Grenzregion wird jedoch auch die Frage sein, welche Lehren die Politik aus dieser Zeit gezogen hat. Werden wir den Schock des Frühjahrs 2020 als Weckruf zu echten strukturellen und nachhaltigen Verbesserungen und Fortschritten nutzen oder bleiben die erlebten Verletzungen und die Fragilität der Beziehungen in Erinnerung, weil man wieder zur Tagesordnung zurückgekehrt ist? Ein Impetus dieser Publikation ist es, einige Themen auf die Agenda der Post-Corona Zeit zu setzen, für deren Lösungen wir eine neue Dynamik in den grenzüberschreitenden Beziehungen brauchen, die ihre Notwendigkeit und Bedeutung aus dem Schock dieser besonderen Tage im Frühjahr 2020 bezieht. Ein „plus jamais!“ wird nur glaubwürdig sein, wenn es nicht im Übrigen auf einem „Weiter so!“ beruht. Im Gegenteil: Wenn der heilsame Schock des Frühjahrs eine neue Dynamik in den grenzüberschreitenden Beziehungen entfacht, dann wird aus der Pandemie eine Chance für die Grenzregion (Abbildung 1). 

 

Abbildung 1: Gemeinsam für Europa. Quelle: Aufnahmen David Quack 2020. 

 

 

Die nationale und regionale Politik kann damit beweisen, dass sie die Lehren aus der Krise gezogen hat und – mehr noch – den Beteuerungen der Bedeutung der grenzüberschreitenden Kooperation in der Krise auch nach der Krise Taten folgen. Für die angekratzte Glaubwürdigkeit und die – wie eine Umfrage des Saarländischen Rundfunks[iii] aufgezeigt hat – für manche Menschen immer noch belasteten Beziehungen wäre dies dringend notwendig.  

Diese Vorschläge sind weder abschließend gemeint noch erhebt der Autor auf diese ein Copyright, denn sie sind politischen und gesellschaftlichen Debatten entlehnt, die in den vergangenen Monaten stattgefunden haben. Einige Verbesserungen haben sich im weiteren Verlauf der Pandemie bereits eingestellt und sind auf einem guten Wege. Bei vielen ist ein Großteil der Strecke noch vor uns. Bei manchen scheint die Tendenz sogar negativ zu sein, da die Beschäftigung mit der Pandemie die notwendige Aufmerksamkeit genommen hat, so dass eine politische Lösung heute weiter entfernt scheint als in den Monaten vor Corona. 

 

Politische Koordination stärken: der deutsch-französische Krisenstab beim gemeinsamen Sekretariat für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit 

Die ersten beiden Wochen des März 2020 waren geprägt von teilweise hektischen Entscheidungen in einer Phase, in der die Schreckensnachrichten der Pandemie auf die Verantwortlichen auf beiden Seiten der Grenze im Stundentakt einschlugen und bereits die innerstaatliche Koordination und Kommunikation den Ereignissen kaum nachkam. Dies galt – wie eine ehrliche Rückschau zeigt – für beide Länder und ist angesichts der Dramatik der Geschehnisse, die keiner der Beteiligten zuvor erlebt hatte, auch nicht vorwerfbar. Politische Positionierungen wurden vielfach von der Dynamik der Situation überrollt, bevor sie beim Adressaten angekommen waren. Ich habe in den ersten Wochen der Pandemie selbst erlebt, dass die persönlich übermittelte Nachricht an die Partner*innen des Landes bereits nicht mehr aktuell war, als das letzte Telefonat beendet wurde. Die Dynamik der Lage war häufig ein Euphemismus für eine stürmische Entwicklung, die uns alle atemlos zurückließ.   

Eine wirkliche gemeinsame Abstimmung von Maßnahmen auf der regionalen Ebene war insbesondere in Fragen, die national vorentschieden waren, nur eingeschränkt möglich. So unternahm die Landesregierung beispielsweise bei der Schließung von Grenzübergangsstellen, die das saarländische Verkehrsministerium als Amtshilfe gegenüber der Bundespolizei durchführte, den Versuch, diese mit den Vertreter*innen von Präfektur und Region vorab zu besprechen. Da diese Koordinierungsrunde aber weder das Ob der Maßnahme diskutieren konnte noch wesentlichen Spielraum in der Umsetzung hatte, kam diese eher einer umfangreichen Vorabinformation denn einer Koordinierung gleich. 

Die politische Koordinierung wurde gerade in den hektischen Tagen des März ersetzt durch regelmäßige SMS-Kontakte zwischen einigen wenigen Entscheidungsträger*innen. Insbesondere das bereits vor der Krise gute Verhältnis zwischen dem Präsidenten des Regionalrats des Grand Est und dem saarländischen Ministerpräsidenten Tobias Hans waren von enormer Bedeutung insbesondere bei der Übernahme von Patient*innen aus Frankreich in saarländischen Kliniken[iv]

Im weiteren Verlauf der Pandemie gewann zudem ein von der Präfektin Chevalier einberufener Kreis von Vertreter*innen aus Frankreich und Deutschland sowie der Schweiz immer größere Bedeutung, zumal dort auch die politische Ebene mit der sanitären Administration in beiden Ländern verschränkt wurde. Weitere regelmäßige Videokonferenzen im Rahmen der Oberrheinkonferenz und der Großregion verknüpften insbesondere die Arbeitsebene der beteiligten Institutionen. 

Seit dem 16. März, dem Tag der Einführung der Kontrollen, finden mehrmals wöchentlich Telefonkonferenzen im sogenannten „GRÜZ-Format“ statt. Daran beteiligt sind die Partner*innen, die im Ausschuss für Grenzüberschreitende Zusammenarbeit nach dem Aachener Vertag, zusammenarbeiten. An diesen Telefonkonferenzen nehmen regelmäßig das saarländische Europaministerium, Staatsministerium Baden-Württemberg, Staatskanzlei Rheinland-Pfalz, Region Grand Est, Präfektur Grand Est, die Departements Moselle, Haut-Rhin, Bas-Rhin, die agence régional de santé (ARS), Eurodistrict SaarMoselle und das Auswärtige Amt und das Bundesinnenministerium teil. Seit dem 2. April erfolgte ein zusätzlicher Austausch wöchentlich im Rahmen einer Videokonferenz auf Ebene der Großregion. 

All diese Runden waren und bleiben aktuell für die gemeinsame Bekämpfung der Pandemie von echtem Wert. Alleine das Wissen um die Lage des Nachbarn, dessen Sicht auf die kommenden Tage, das Austauschen über eigene Handlungsoptionen macht Politik verlässlicher. Der permanente Austausch auf politischer Ebene rückt die Betroffenheit des Nachbarn von und die Interdependenz der eigenen Entscheidung in den Fokus der Aufmerksamkeit der Entscheidenden. Verständnis und Sensibilität für die Lage des Nachbarn, dessen Nöte und Zwänge sowie dessen Prioritäten und Probleme ergeben sich nur aus einem stabilen und permanenten Kontakt. Dieser war in der Krise so eng, vertrauensvoll und vielfach freundschaftlich wie nie zuvor. Die gemeinsame Not machte es erforderlich, die Videokonferenztechnik machte es möglich. Der gemeinsame Geist der Krisenzeit wird hoffentlich noch lange bleiben, wenn Corona seinen Schrecken verloren hat. 

Was während der ersten Phase der Pandemie durch Sondergipfel der Großregion, Austausch im Rahmen der Oberrheinkonferenz, bilaterale Kontakte abgefangen wurde, muss zukünftig diese Aufgabe in vergleichbaren Lagen durch eine institutionalisierte Runde auf politischer Ebene ab dem ersten Moment der Krise wahrgenommen werden. Was im Nationalstaat selbstverständlich ist, nämlich die Bildung von Krisenstäben auch auf politischer Ebene, muss ad hoc in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit genauso gelebt werden. Der jeweilige Krisenstab braucht jedoch neben der erforderlichen politischen Besetzung auch die operative Durchschlagskraft, um Termine anzusetzen, Tagesordnungen abzustimmen und Informationsplattform zu sein.      

 

Dreh- und Angelpunkt für die Krisenbewältigung: Das Sekretariat des Ausschusses für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit 

Im Vorfeld zu bestimmen, wer genau am Tisch sitzen muss, erscheint zwar unpraktikabel, da beides von der konkreten Ausprägung der jeweiligen krisenhaften Situation abhängt, als Dreh- und Angelpunkt im deutsch-französischen Verhältnis bietet sich jedoch das Gemeinsame Sekretariat des Ausschusses für grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Rahmen des Aachener Vertrags[v] an. Dieses Sekretariat, bereits heute deutsch-französisch personalisiert, verfügt über die notwendige Anbindung an regionale und nationale Administrationen und bringt damit die notwendige Vernetzung und Stabilität mit, um Plattform und Motor für die Koordination zwischen Deutschland und Frankreich zu sein. 

 

Medizinische Kooperation: vom Beistandspakt über den Solidaritätsmechanismus auf dem Weg zur grenzüberschreitenden Gesundheitszone 

Während die Übernahme von Patient*innen in der ersten Phase der Krise aus der Not geboren und auch dank Eigeninitiative aus den Krankenhäusern erfolgte, verlief sie im Herbst 2020 bereits weitaus koordinierter und besser organisiert. Auf Hinweise aus der Agence Régionale de Santé (ARS, regionale Vertretung des französischen Gesundheitsministeriums) war der französische Bedarf quantifiziert worden und konnte so mit etwas Verlauf aus den deutschen Kliniken beantwortet werden, zumal sich im weiteren Verlauf der Ereignisse der Bedarf durch einen Rückgang der Neuinfektionen in Frankreich als geringer als befürchtet darstellte. Im Gegenzug wurden im Dezember, nachdem sich die Lage in den deutschen Krankenhäusern spürbar anspannte, von Seiten der ARS Kapazitäten in französischen Kliniken angeboten.  

Als politische Reaktion – angestoßen durch den französischen Regionalratspräsidenten Jean Rottner und den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg Winfried Kretschmann – wurde Ende November 2020 der Beistandspakt[vi] unterzeichnet, mit dem sich die Partner zur gegenseitigen Solidarität förmlich verpflichteten. Materiell betrachtet zwar zunächst nur eine politische Absichtserklärung, dennoch eine wertvolle Absicherung aller Beteiligten durch symbolische Manifestation der gegenseitigen Unterstützung im Ernstfall. Auf Ebene der Großregion wurden daneben Projekte initiiert und unterstützt, die die grenzüberschreitende Pandemiebekämpfung erleichterten und zukünftig hilfreich sein werden.[vii] 

Während dies in der ersten Phase spontan und im Herbst auf Basis kurzfristig aufgebauter Kommunikationsstrukturen erfolgte, bedarf es in Ergänzung des politischen Krisenstabs für zukünftige Krisenlagen eines Solidaritätsmechanismus, der verfügbare Ressourcen sowie drohende Knappheiten transparent macht, damit die politischen Entscheidungsträger kurzfristige Entscheidungen über gegenseitige Unterstützungsmaßnahmen treffen können. 

 

Die Gesundheitsregion von den Patient*innen her statt entlang nationaler Grenzen neu denken 

Die langfristige Vision für die Gesundheitsversorgung in der Grenzregion muss jedoch weit über die punktuelle gegenseitige Hilfe in Notsituationen hinausgehen. Vereinbarungen zwischen der Moselle und dem Saarland wie die MOSAR-Konvention[viii], die den Zugang von Notfallpatient*innen zu bestimmten Behandlungen im jeweils nächstgelegenen Krankenhaus regelt, bilden den Nucleus für eine zukünftige grenzüberschreitende Gesundheitsregion. Entscheidend für die Frage, in welchem Krankenhaus Patient*innen eingeliefert werden, muss sich in dieser Zukunft nicht am Verlauf der nationalen Grenzen und der Zuständigkeiten der jeweiligen Systeme, sondern ausschließlich an der Frage orientieren, wo die jeweiligem Patient*innen für ihre jeweiligen Erkrankungen die beste und schnellste Behandlung erhalten können. Dass dies auch zu mehr Effizienz der Gesundheitsversorgung führen kann, wird am Beispiel des Notfallhelikopters auf dem Saarbrücker Winterberg besonders deutlich. Da dieser bislang nur in Deutschland zu Einsätzen gerufen werden kann, führt seine geographische Lage an der Grenze dazu, dass er nur einen halben Einzugsbereich bedienen kann. Während der Saarbrücker Helikopter also eine geringere Auslastung als seine fliegenden Kollegen hat, müssen die französischen Patient*innen im weniger Kilometer entfernten Forbach, Saint Avold oder Sarreguemines aus dem weit entfernten Nancy angeflogen werden. Dass die Verbesserung dieser Situation in der Unfallmedizin Leben retten könnte, liegt auf der Hand.  

 

Der kleine Grenzverkehr in der Krise – Grenzraumcheck gerade in Krisenzeiten durchführen! 

Neben der symbolischen Dimension der Bilder von geschlossenen Grenzen im Herzen von Europa war die Beschränkung des sogenannten kleinen Grenzverkehrs für viele Menschen in der Region nicht nur ein Ärgernis, sondern auch ein faktisches Hindernis in der gemeinsamen Bekämpfung der Pandemie. Während das Personal der Krankenhäuser unter Hochdruck stand, führten die gesperrten Grenzübergänge für die zahlreichen in Frankreich wohnhaften Mitarbeiter*innen saarländischer Kliniken zu Staus und Umwegen, die den ohnehin langen Arbeitstag noch in die Länge zogen. 

Nach der lang erwarteten Öffnung aller Übergänge im Juni 2020 war es daher Ziel der Politik in der Grenzregion, diese Situation für den weiteren Verlauf der Pandemie zu vermeiden. Mit der Diskussion um die Frage der Quarantäne-Pflicht für Rückkehrende aus sogenannten Risikogebieten stellte sich die Frage erneut, wie – im Falle der Einordnung des Nachbarn als solches Risikogebiet – beispielsweise Pendler*innen zu behandeln seien. Denn auch bei Ausnahmeregelungen für bestimmte Aufenthaltsgründe wären damit die „triftigen Gründe“, deren Prüfung und Auslegung im Frühjahr viel Aufwand und Ärger bereitet hatten, wieder in der Welt gewesen. 

Nach eingehender Debatte in den Ländern, zwischen ihnen und mit der Bundesregierung, die durch das Bundesinnenministerium eine Musterquarantäneverordnung erarbeiten ließ, wurde mit der „24-Stunden-Regel“ im saarländischen Europaministerium eine Vorschrift erdacht, die bei Kurzaufenthalten im Rahmen des kleinen Grenzverkehrs eine generelle Ausnahme von der Quarantänepflicht vorsieht. An dieser haben Bund und Länder, mit Ausnahme Baden-Württembergs im Zusammenhang mit der Diskussion um den Skitourismus in die Schweiz, bislang (Stand Mitte Januar 2021) festgehalten, da sie sich in den Augen aller bewährt hat. 

Dieses Beispiel steht pars pro toto für die besondere Betroffenheit von Grenzregionen in Situationen wie der des Jahres 2020. Bei ihrem Besuch in der Region am 5. Juni 2020 hatte Amélie de Montchalin, zu dieser Zeit französische Staatssekretärin für Europaangelegenheiten, dafür auch die richtige Erklärung gefunden. Grenzregionen unterliegen nämlich durch die faktischen Auswirkungen der Regeln des Nachbarn im Grunde mehr Beschränkungen als solche in zentralen nationalen Lagen. Das führt zu umso mehr Verwerfungen, je inkompatibler die Vorschriften dies- und jenseits der jeweiligen Grenze gestaltet sind. Diese Feststellung gilt nicht nur für Mobilitätsbeschränkungen, sondern auch für sozialrechtliche, arbeitsrechtliche oder steuerrechtliche Fragestellungen, von denen wir in diesem Buch bereits einige kennengelernt haben. 

Wie auch außerhalb der Krise ist daher umso wichtiger der permanente Grenzraum-Check, der politische Entscheidungsträger*innen auf der nationalen und regionalen Ebene auf die besondere Situation der Betroffenheit von Grenzräumen aufmerksam machen soll. 

 

Sachverstand für die Krise vorhalten: „Task Force Grenzgänger“ weiterentwickeln  

Für zukünftige Krisen braucht es daher bereits im Vorfeld die Kompetenz, Regeln auf diese Fragestellung in kurzer Frist zu überprüfen. Beste Erfahrungen hat dafür die Politik in der Region mit der „Task Force Grenzgänger“[ix] gemacht, die den notwendigen juristischen Sachverstand bündelt, juristische und administrative Hindernisse für den Grenzraum durch Maßnahmen der Krisenbewältigung vorauszusehen und Lösungsansätze aufzuzeigen. Die „Task Force Grenzgänger“ der Großregion beschäftigt sich mit der Erarbeitung von juristischen und administrativen Lösungsvorschlägen grundsätzlicher Art für Fragen und Problemstellungen von Grenzgänger*innen der Großregion und Unternehmen, die in der Großregion Grenzgänger*innen beschäftigen. Dabei ist sie insbesondere im Arbeits-, Bildungs-, Sozial- und Steuerrecht tätig. Die politische Verständigung über die Fortführung der Task Force nach Auslaufen der Interreg-Förderung war einer der Erfolge der saarländischen Präsidentschaft in der Großregion.[x] 

 

Akteur und Motor der Zusammenarbeit statt Mittel zur Abschottung – Sicherheitskooperation besser koordinieren und sichtbarer machen! 

Der Unterschied zwischen Frühjahr und Winter 2020 in der grenzüberschreitenden Pandemiebekämpfung könnte durch kein Bild deutlicher gemacht werden als durch das der binationalen Streifen in den Innenstädten im Dezember im Vergleich zu dem des den Grenzübertritt kontrollierenden Beamten des Frühjahrs. Während es – trotz aller ehrlichen Bemühungen der Bundespolizei – im Frühjahr zu unschönen Szenen, Missverständnissen und Ärgernissen über die sogenannten „triftigen Gründe“ bei Grenzkontrollen gekommen war, schritten die uniformierten Kolleg*innen von Polizei und Police Nationale sowie Gendarmerie Schulter an Schulter durch Sarreguemines, Saarbrücken und Saarlouis und vermittelten damit, dass die Behörden auch bei der Durchsetzung der Vorschriften zur Bekämpfung der Pandemie Hand in Hand arbeiteten. 

Die Sicherheitsbehörden in der Grenzregion arbeiten seit vielen Jahren erfolgreich zusammen. Zahlreiche formelle und informelle Formen der Zusammenarbeit haben sich bewährt, um grenzüberschreitende Kriminalitätsphänomene gemeinsam zu bekämpfen. Vom Gemeinsamen Zentrum für Polizei- und Zollzusammenarbeit in Luxemburg, an dem vier Länder beteiligt sind, bis zu den persönlichen Kontakten zwischen Dienststellen entlang der Grenze hat es sich bewährt, dass Informationen fließen können und Einsätze abgesprochen werden. Die Flucht über die Grenze schützt schon lange nicht mehr vor dem Zugriff der Sicherheitskräfte. Bereits in der Ausbildung beginnt die Zusammenarbeit, wenn jedes Jahr im Juni junge Polizeischüler*innen aus Luxemburg, Frankreich, Belgien und Deutschland zusammenkommen, um diese Dimension ihrer zukünftigen Arbeit und dabei auch sich untereinander besser kennen zu lernen. Die Zusammenarbeit der Polizei bildet im Übrigen eines der 15 Kapitel der „feuille de route III“ (2020-2022) der Frankreichstrategie des Saarlandes. 

Für den ausgeprägten Willen zur Zusammenarbeit gibt es zahlreiche Beispiele und Orte, an denen dieser besonders zu Tage tritt. Ob in der gemeinsamen Dienststelle an der Goldenen Bremm, den monatlichen 3M-Gesprächen - regelmäßige Besprechungen der Polizei-Dienststellen im Dreiländereck -  oder den grenzüberschreitenden Kontrolltagen im Straßenverkehr die Sicherheitsbehörden in der Grenzregion – auf deutscher Seite Landes- wie Bundespolizei – sind Akteur und Motor der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit.[xi] Auch im Alltag der Dienststellen ist die Zusammenarbeit fruchtbar. So konnte die Saarbrücker Zeitung Anfang November 2020 von einem gemeinsamen Fahndungserfolg mitten in der Pandemie berichten, bei dem ein Täter, der in der Moselle und im Saarland strafrechtlich in Erscheinung getreten war, dingfest gemacht werden konnte. Fazit der Ermittler*innen: „Es erleichtert die Arbeit ungemein, dass wir unsere französischen Kollegen gut kennen!“[xii] 

Die Pandemiebekämpfung hat jedoch deutlich gemacht, dass gerade in krisenhaften Situationen die Zusammenarbeit umso wichtiger ist. Das hat auch ganz praktische Gründe. In einem mehrsprachigen Raum wie unserer Region mit zehntausenden Pendler*innen ist die Vermittlung der gerade geltenden Regeln über die Sprachgrenze hinweg keine Kleinigkeit. Was bei sich ständig ändernden rechtlichen Vorgaben für die Bürger*innen bereits im eigenen sprachlichen Kontext nicht leicht ist, fällt zwischen den deutschen Beamt*innen und den frankophonen Bürger*innen – oder umgekehrt! – noch schwerer. Im Frühjahr kam bei der Frage des „triftigen Grunds“ für den Grenzübertritt noch eine gewisse Rechtsunsicherheit hinzu, was von vielen Bürger*innen als Willkür oder gar Diskriminierung empfunden wurde. Über Wochen kam es an Grenzübergangsstellen zu Missverständnissen und Ärgernissen, weil Regeln nicht klar waren oder nicht klar verstanden wurden. Auch wenn sich die Beamt*innen alle Mühe gaben und die Kontrollen trotz der angespannten Lage im Großen und Ganzen mit viel Empathie und Fingerspitzengefühl durchgeführt wurden, haben genau diese Einzelfälle für eine gewisse Zeit das Klima erkalten lassen.[xiii] Um ein Fortbestehen solcher Situationen zu verhindern, veröffentlichten das Bundesinnenministerium und sein französisches Pendant am 2. Juni 2020 eine deutsch-französische Bescheinigung, in der die verschiedenen „triftigen Gründe“ aufgelistet wurden, die beide Verwaltungen für eine Reise in das Nachbarland akzeptierten[xiv]

Die Lektion daraus für zukünftige krisenhafte Situationen wurde bereits in der zweiten Welle gezogen und bleibt aktuell. Gemeinsame Kontrollen, bei denen es nicht zu sprachlichen Missverständnissen kommen kann, weil immer ein Muttersprachler unter den kontrollierenden Beamt*innen anwesend ist, können erst gar nicht als diskriminierend empfunden werden, weil der jeweilige ja auch von seinen „eigenen Beamt*innen“ kontrolliert wird. 

 

Die Instrumente grenzüberschreitender Kooperation der Sicherheitsbehörden stärken, üben und im Krisenfall auch nutzen 

Für künftige Krisen muss gelten: Die Nutzung der bereits vorhandenen Instrumente grenzüberschreitender Zusammenarbeit im Krisenfall muss besser werden. Beispielsweise durch gemeinsame Maßnahmen im Rahmen der Schleierfahndung im Grenzraum, die bessere Koordinierung der Arbeit der Sicherheitsbehörden auch zwischen dem Saarland und seinen Nachbarn auf Führungsebene zwischen Landesministerien, Bundespolizeidirektion und Präfektur und schließlich langfristig der Ausbau von Sprachkompetenz in den Sicherheitsbehörden, um die Zusammenarbeit noch flüssiger zu machen, werden Maßnahmen sein, die auf den bereits bestehenden professionellen Grundlagen der Polizeizusammenarbeit diese auch in der Krise noch besser machen. Solche Szenarien müssen in Zukunft Gegenstand grenzüberschreitender Übungen sein, müssen im Krisenfall aber auch von den Entscheidungsträger*innen gelebt werden.  

 

Rechtliche und faktische Benachteiligungen für Grenzgänger*innen endlich abbauen – Die Krise als Katalysator nutzen! 

Nach den unmittelbaren sanitären Auswirkungen der Krise ließen die sozialen und ökonomischen Folgen der Krise und der Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie nicht lange auf sich warten. Die Vollbremsung und der abrupte Stillstand weiter Teile des wirtschaftlichen Handelns zwecks maximaler Kontaktreduzierung führten zu Kurzarbeit auf beiden Seiten der Grenze und sorgten für einen Anstieg der Arbeitslosigkeit, der vermutlich nur der lange Schatten einer ökonomischen Krise darstellt, die Europa in den kommenden Jahren beschäftigen wird. Mit den ökonomischen Problemen traten auch die rechtlichen Verwerfungen wieder stärker in den Vordergrund, die für viele Grenzpendler*innen und deren Arbeitgeber*innen zu schwerwiegenden finanziellen Benachteiligungen führen und in der Krise eine zusätzliche Belastung der Menschen und der regionalen Wirtschaft darstellen. 

Die abermalige Besteuerung des – vor Auszahlung in Deutschland bereits pauschal besteuerten und netto ausgezahlten – deutschen Kurzarbeitergelds in Frankreich führte bei in Frankreich lebenden und in Deutschland arbeitenden Grenzgänger*innen, die in Kurzarbeit gingen, zu massiven Einkommenseinbrüchen. Die in Deutschland lebenden Mitarbeiter*innen französischer Firmen, die keinen Sitz in Deutschland haben, waren aufgrund der deutschen Rechtslage gleich vollständig vom Bezug von Kurzarbeitergeld ausgeschlossen. Anzumerken ist hierbei wiederum, dass Muriel Pénicaud, die französische Arbeitsministerin, in Rekordzeit die französische Gesetzgebung dahingehend geändert hat, dass Arbeitnehmer*innen deutscher Unternehmen in Frankreich ohne Tochtergesellschaft oder Niederlassung unter dem Vorbehalt der Gegenseitigkeit Kurzarbeit gewährt werden kann. Die neue Verordnung trat am 27. März 2020 in Kraft, 10 Tage nach dem Beginn der Ausgangsperre – eine Reaktivität und Professionalität, die den französischen Behörden zur Ehre gereicht. 

Auch weitere steuerrechtliche und sozialrechtliche Probleme zeitigten ihre desaströsen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt der Grenzregion. Nicht nur in Form von Kaufkraftverlusten bei den Mitarbeiter*innen, sondern auch für die Unternehmen, die beispielsweise nicht in den Genuss der infektionsschutzrechtlichen Entschädigung kamen, wenn ihre Mitarbeiter*innen nicht von einer deutschen, sondern einer – für in Frankreich lebende Menschen nun einmal alleinig zuständigen – französischen Gesundheitsbehörde in Quarantäne geschickt wurden. Was in normalen Zeiten eine geringfügige wirtschaftliche Belastung darstellt, wird in Zeiten massenhafter Quarantäneanordnungen ein Standortnachteil für Unternehmen in der Region. 

In all diesen Fragen, die sich zu den Barrieren grenzüberschreitenden Lebens und Arbeitens hinzugesellen, liegen die Schlüssel zur Lösung in den nationalen Hauptstädten. Sei es die schwieriger gewordene Finanzierung grenzüberschreitender Ausbildung oder die bürokratischen Hürden im Rahmen der Umsetzung der Entsenderichtlinie, all diese Fragen scheinen sich derzeit zwischen Berlin und Paris gegenseitig zu blockieren, jedenfalls ist der Fokus der Aufmerksamkeit während der Pandemie davon abgerückt. Eine Lösung für einzelne Fragen ist derzeit nicht in Sicht. Der Versuche von Seiten der regionalen Politik – auf beiden Seiten der Grenze – alleine und gemeinsam Berlin und Paris von den notwendigen Schritten zu überzeugen gab es zahlreiche. 

Die beschriebenen täglichen Hindernisse in der Realität des grenzüberschreitenden Lebens sind nicht nur für die Betroffenen ein Ärgernis. Sie sind auch für die Glaubwürdigkeit deutsch-französischer Politik in den Augen derer, die einen deutsch-französischen Alltag leben, desaströs. Die Frage, wie Deutschland und Frankreich gemeinsame Großprojekte stemmen wollen, wenn sie nicht einmal in der Lage sind, bürokratische Petitessen zu harmonisieren, führt zu Enttäuschung und Verdruss bei denen, die dem Grunde nach der Idee am nächsten stehen müssten. 

Zwar hat es in der Vergangenheit immer mal wieder Fortschritte gegeben. Mühsam und langwierig zu finden, sind diese jedoch häufig als unzureichend empfunden worden. Und Rückschläge gab es eben auch. Der saarländische Schreiner, der vor zehn Jahren mit seinem französischen Lehrling, zur Baustelle nach Strasbourg fuhr, konnte dies in der Gewissheit tun, dass er sich keine besonderen Sorgen machen musste. Heute braucht er ein A1-Formular für jeden seiner Mitarbeitenden und sich selbst, eine Crit’Air Umweltplakette für Strasbourg, die natürlich nicht die gleiche ist wie für deutsche Ballungszentren und die Finanzierung des Arbeitgeberanteils der theoretischen Ausbildung seines Lehrlings ist auch nicht mehr gesichert. Diesem zu erklären, dass „Europa die Lösung“ ist, wird jedem Politiker schwerfallen, da es sich nicht mit seinen alltäglichen Erfahrungen deckt. Hintergrund solcher Regelungen sind bisweilen die Unachtsamkeit des nationalen Gesetz- oder Verordnungsgebers für die besonderen Belange der Grenzregionen, aber eben manchmal auch schlicht Protektionismus. 

Diese Hürden und Hindernisse gibt es selbstverständlich nicht nur entlang der deutsch-französischen Grenze. Vielmehr beschäftigt sich die EU-Kommission bereits seit langem mit der Situation der Grenzregionen innerhalb der Europäischen Union. In einem Bericht der Kommission aus dem September 2017 kommt die Kommission zu dem Ergebnis, dass aufgrund dieser rechtlichen, administrativen und auch faktischen Hindernisse die Grenzregionen innerhalb der EU, in denen immerhin ein gutes Drittel aller Bürger*innen der EU leben, weit hinter ihrem ökonomischen Potential zurückbleiben.[xv] Ein Abbau der Barrieren würde sich daher als kleines Konjunkturprogramm für die europäischen Grenzregionen entwickeln, was nicht erst seit der Pandemie dringend notwendig ist. Denn die ökonomischen Folgen werden auch wegen der beschriebenen zusätzlichen Belastungen die Grenzregion stärker erfassen als andere europäische Regionen in aus nationalstaatlicher Sicht betrachtet zentraleren Lagen. Das Fortbestehen dieser rechtlichen und administrativen Hindernisse ist umso unverständlicher, als Artikel 13 des am 22. Januar 2019 unterzeichneten und am 22. Januar 2020 in Kraft getretenen Aachener Vertrags vorsieht, dass die Regierungen von den nationalen Vorschriften abweichen können, um den Gegebenheiten der Grenzregionen Rechnung zu tragen und die Vorschriften zu harmonisieren.    

 

Ein Deutsch-Französischer Ministerrat als Befreiungsschlag für die rechtlichen und tatsächlichen Barrieren in der Grenzregion 

Was es daher braucht, um zu zeigen, dass aus dieser Krise gelernt wurde, ist ein Paket an Lösungen für die deutsch-französische Grenzregion. Die jeweiligen Lösungsvorschläge liegen bereits auf dem Tisch des Ausschusses für grenzüberschreitende Angelegenheiten und in den zuständigen Ministerien in Paris und Berlin. Was jetzt notwendig ist, ist der politische Wille, diese zu einem Paket zu schnüren, der wie ein Befreiungsschlag für die Grenzregionen wirken kann. Eine Tagung des deutsch-französischen Ministerrats gemeinsam mit dem Ausschuss für grenzüberschreitende Beziehungen, an dem auch die regionalen und lokalen Vertreter*innen beteiligt sind, wäre das geeignete Format für die dringend notwendigen Entscheidungen zugunsten der deutsch-französischen Grenzregion. Warum ist dabei nun eine politische Entscheidung zwingend notwendig? Der Hintergrund besteht darin, dass die nationalen Verwaltungen zwar Ausnahmeregelungen kritisch gegenüberstehen, doch in unterschiedlichen Situationen besteht die Fairness darin, die Regeln an die Gegebenheiten unserer Grenzregion anzupassen.  

 

Ein neuer „statut transfrontalier“ für grenzüberschreitende Ausbildung und Studium in der Großregion 

Universitäten und Studierende waren zu allen Zeiten Motoren gesellschaftlicher Entwicklungen und des Fortschritts in Städten, Regionen und ganzen Ländern. In den Hochschulen werden nicht nur neue Forschungsergebnisse erzielt, sie dienen auch der Weiterentwicklung unseres Blicks auf die Welt, schaffen neue Identitäten und transformieren ganze Gesellschaften. Sie sind Treiber des Strukturwandels und bereits von ihrer Grundidee grenzüberschreitend gedacht, da der wissenschaftliche Austausch keine Grenzen kennt. 

Was seit der Gründung der ersten Universität 1088 in Bologna gilt, wird in den Universitäten und Hochschulen der Grenzregion ganz besonders gelebt. Die internationale Aufstellung der Forschung und Lehre, die Zusammensetzung der Studierenden mit jungen Menschen aus aller Herren Länder, ja selbst die Gründungsgeschichte der Universität des Saarlandes seit 1948 atmen diesen Geist. Daher nehmen die Universitäten und Hochschulen in der Grenzregion auch genau diese Rolle, zentraler Akteur und Motor des Zusammenwachsens über die Grenze hinweg zu sein, auch wahr. Kein Politikfeld ist so weit in der konkreten Zusammenarbeit, nirgends kommen so viele Menschen täglich grenzüberschreitend zusammen wie in den Hörsälen und Labors der Grenzregion, nirgends entwickelt sich der europäische Geist unserer Heimat mehr als in den Mensen und Studierendenwohnheimen zwischen Luxemburg, Metz, Nancy, Trier, Saarbrücken und Kaiserslautern. 

Mit dem Verwaltungssitz der Deutsch-Französischen Hochschule, der Universität der Großregion, mit ISFATES sowie mit seinen zahlreichen europäisch und international ausgerichteten Instituten und Forschungseinrichtungen verfügt unser Hochschulraum über ein besonderes Profil. In vielen grenzüberschreitenden, bi- und multilateralen Studiengängen lernen Studierende nicht nur Fachliches, sondern zusätzlich die kulturellen Kompetenzen, die das Leben und Arbeiten in verschiedenen Ländern und Kulturen mit sich bringen. Für viele Dozierende und Forschende ist die Vielfalt des Hochschulraums dank der zahlreichen grenzüberschreitenden und internationalen Verbindungen ein wichtiges Argument für ihre Arbeit an unseren Forschungseinrichtungen. Ich habe bei vielen Gelegenheiten im Rahmen von Auslandsaufenthalten in zahlreichen Ländern Europas, aber auch in Russland, Südostasien oder Afrika die Erfahrung gemacht, dass der Kreis der Alumni der Universität des Saarlandes größer ist als man ihn einer mittelgroßen deutschen Universität zutrauen mag. Aus dieser Vernetzung Kapital für das Saarland zu schlagen, ist eine der großen Chancen, denen sich zu widmen es sich lohnt.  

Gleiches gilt – wenn auch noch in geringerer Zahl – für diejenigen Auszubildenden, die in den grenzüberschreitenden Ausbildungsgängen ihre berufliche Ausbildung machen. In mittlerweile vier binationalen Berufsausbildungsgängen lernen junge Menschen von beiden Seiten der Grenze nur an saarländischen Berufsschulen. Ähnliche Projekte gibt es entlang der deutsch-französischen Grenze ebenso, wenngleich noch nicht so stark ausgeprägt. Der ökonomische Vorteil auf beiden Seiten der Grenze wird jedoch bereits deutlich, wenn man die immer noch hohe Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich und den Fachkräftemangel in Deutschland in den Blick nimmt. Die bessere Verknüpfung der beiden Arbeitsmärkte bietet damit eine Lösung für zwei Probleme. Wie hoch das Interesse daran ist, wird jedes Jahr bei der Interregionalen Jobmesse in Saarbrücken deutlich, bei der im Jahr 2019 über 150 ausstellende Unternehmen immerhin 10.000 Stellen in der Großregion den über 10.000 Besucher*innen anbieten konnten. 

Für all diese Menschen, die ihre berufliche und universitäre Ausbildung auf das Versprechen des grenzenlosen Arbeitsmarkts in der Europäischen Union bauen, waren die Grenzschließungen mit Sicherheit ein besonderer Einschnitt, weil damit eine zusätzliche Fragilität der grenzüberschreitenden Mobilität offenbar wurde, die bei der Wahl des Ausbildungs- oder Studienorts zukünftig eine Rolle spielen wird. Zwar konnte durch das verstärkte Angebot von Online-Vorlesungen und durch Ausnahmeregelungen in den Corona-Verordnungen der Länder für Studierende, Auszubildende und Lehrende die Beeinträchtigung der grenzüberschreitenden Studien- und Ausbildungsgänge de facto minimiert werden, die Unsicherheit über viele Monate war dennoch groß. Wer für die Zukunft verhindern will, dass grenzüberschreitende Ausbildungs- und Studiengänge dadurch zukünftig an Attraktivität verlieren, muss dieser schlechten Erfahrung ein positives Signal der konkreten Verbesserung der Mobilität von Studierenden und Lernenden entgegensetzen. Dieser Überlegung dient die Idee eines „statut d'apprenant transfrontalier“, der eine Erleichterung der rechtlichen und tatsächlichen Situation der Studierenden, Auszubildenden und Praktikant*innen in grenzüberschreitenden Studien- oder Ausbildungsgängen zum Ziel hat. 

Dieser Vorschlag, der im Rahmen des Projekts „business act Grand Est[xvi] von Seiten der universitären Vertreter*innen der Politik in der Großregion unterbreitet wurde und auch in anderen Grenzregionen Gegenstand der Diskussion ist, beinhaltet die Forderung nach Verbesserung der grenzüberschreitenden Mobilität durch einige tatsächliche Maßnahmen. So kann durch die Harmonisierung der Ausbildungskalender eine bessere Durchlässigkeit der Studien- und Ausbildungsangebote erreicht werden. Zumindest partiell erscheint diese sinnvolle Maßnahme auch möglich. Zum anderen zielt der Vorschlag darauf ab, die faktische Mobilität der Lernenden zu verbessern, indem ihnen die Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs mit einem einzigen Studi-Ticket für die Großregion vergünstigt wird. In Ergänzung der heute bereits vielfach gewährten Mobilitätshilfen könnte dies einen weiteren Anreiz zur Nutzung des grenzenlosen Hochschulraums in der Region bieten und ein wesentliches Hindernis im Alltag abbauen. 

 

Mehr junge Menschen für den Bildungs- und Hochschulraum mit einem zusätzlichen „statut d’apprenant transfrontalier“  

Ziel muss es sein, mehr regionale Studierende und Lernende zur Internationalisierung ihrer Abschlüsse zu bewegen und mehr internationale Studierende wegen dieser besonderen Qualifikationen in die Region zu locken. Die Voraussetzungen im Saarland hierfür sind gut, unsere Hochschulen und Berufsschulen sind bereits gut aufgestellt, zahlreiche Akteure insbesondere an der Universität des Saarlandes und der htw saar arbeiten in spannenden Projekten an der weiteren Internationalisierung unserer Hochschullandschaft mit einem starken europäischen Profil. Durch einen zusätzlichen „statut d’apprenant transfrontalier“ noch mehr junge Menschen hierfür zu gewinnen, wird diese Bemühungen unterstützen.    

 

Gemeinsam die Zukunft planen: von business act Grand Est bis zur IBA-Plattform – think tanks für die post-COVID Ära schaffen 

Nach der sanitären Krise wird gerade die Grenzregion die volle Härte der ökonomischen und sozialen Krise zu spüren bekommen. Die Zahl der Unternehmen, die auf das Mittel der Kurzarbeit zurückgegriffen haben, ist nur ein vorsichtiger Hinweis darauf, was wirtschaftlich auf dem Spiel stehen kann. Neben den besonders betroffenen Branchen – Einzelhandel, Gastronomie, Kultur, um nur einige zu nennen – wird eine Region, die sehr stark an globalen Wertschöpfungsketten hängt, von der schwersten globalen ökonomische Wirtschaftskrise massiv erfasst. Die Karten werden also auch ökonomisch neu gemischt. Bereits ohne die Pandemie standen wesentliche Industriezweige der Region vor disruptiven Entwicklungen oder waren bereits von diesen erfasst. Die Pandemie wird hier ein weiterer Katalysator sein, die Herausforderungen zuspitzt aber auch Lösungen aufzeigt. 

In einer Region, die – das hat das Jahr 2020 gezeigt – in vielfacher Hinsicht ökonomisch interdependent ist, wird der Weg aus der Krise und die Neupositionierung in der Zeit danach nur in gemeinsamer Abstimmung gelingen. Die Heterogenität der politischen Strukturen ist dabei nicht hilfreich. Denn unterschiedlicher könnten Zuständigkeiten, finanzielle Ausstattung und faktische Handlungsspielräume kaum sein als im Dreiländereck der Grenzregion. Vom wohlhabenden Nationalstaat Luxemburg, über die deutschen Bundesländer mit ihren einerseits weitgehenden Zuständigkeiten, andererseits jedoch starken Einbindung in den bundesdeutschen Föderalismus bis hin zur geographisch gewachsenen, aber finanziell gering ausgestatteten Région Grand Est im immer noch zentralistisch geprägten Frankreich. 

Je strukturell schwieriger die politische Koordination, desto bedeutsamer wird die Abstimmung politischer Ziele in der Formulierung der einzelnen Politikfelder in den Regionen. Dabei kommt der institutionalisierten Zusammenarbeit wie beispielsweise in der Großregion oder der Oberrheinkonferenz die wichtige Aufgabe zu, den Dialog zu verstetigen und Stabilität in die Zusammenarbeit zu bringen. 

Gerade in der multilateralen Zusammenarbeit unter sehr heterogenen Partner*innen mit asymmetrischen Zuständigkeiten und Ressourcen ist die Durchführung konkreter Projekte bisweilen langwierig und schwierig. Hinzu kommt die wachsende Bedeutung non-gouvermentaler Akteure in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Hochschulen und Forschungseinrichtungen, Unternehmen und ihre Vertretungen, kommunale Körperschaften wie die Eurodistricte, kulturelle Akteure und Initiativen von Bürger*innen bilden agile Gruppen, deren Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg für den Alltag der Menschen eine mindestens so große Relevanz entfalten kann wie die politischer Institutionen. Sie bilden gleichzeitig keinen Widerspruch, da sie häufig die politische und finanzielle Unterstützung letzterer brauchen, um starten und erfolgreich sein zu können. Daher wurden deren Ressourcen, Energie und Kreativität auch im Umgang mit den Folgen der Krise eingebunden. Vorbildhaft hierfür war der Prozess „Business Act Grand Est“, der unter der Leitung des Präsidenten des Regionalrats Rottner und der Präftektin der Region Chevalier hunderte Akteure aus Wirtschaft, Gesellschaft, Hochschulen, Wissenschaft, Verwaltung und Politik versammelte, um Ideen für den wirtschaftlichen Wiederaufbau der Région Grand Est nach der Pandemie zusammen zu tragen.[xvii] Dabei wurde nicht nur durch eine gesonderte Arbeitsgruppe zu den grenzüberschreitenden Beziehungen, sondern auch durch die aktive Einbindung von Vertreter*innen aus Luxemburg und Deutschland von vorneherein diese Dimension berücksichtigt. 

Ebenso breit in Wissenschaft und Gesellschaft und damit zielführend in diesem Sinne sind die Debatten, die im Rahmen der Arbeiten des Prä-IBA-Büros der htw in Saarbrücken geführt wurden. Auf Initiative des Saarbrücker htw-Professors Dr. Stefan Ochs und finanziert von der Landesregierung gingen die Forscher*innen der htw in einem breit angelegten partizipativen Prozess, der in die gesamte Großregion ragte, der Frage nach, in welcher Form eine Internationale Bauausstellung (IBA) in der Großregion möglich und machbar wäre. Dabei entwickelten die zahlreichen Teilnehmer*innen der Werkstattgespräche und Panels spannende Ideen für eine nachhaltige Entwicklung der Grenzregion. Unter dem von Voltaire inspirierten Leitsatz „mais il faut cultiver notre jardin“ wurde dort gedacht, gearbeitet und wurden Ansätze entwickelt, die in den Jahren 2021 und 2022 im Rahmen einer weiteren zweijährigen Projektphase zu einer IBA-Plattform weitgeführt werden sollen.[xviii] 

 

Agile think tanks und echte Partizipation machen unsere Grenzregion zum einmaligen Labor für ein bürgernahes Europa 

Für die Zeit nach der Pandemie ist es genau diese Form von agilen think tanks, die die grenzüberschreitende Zusammenarbeit braucht. Damit kommen nicht nur neue Ideen auf die Tagesordnung, das macht auch die notwendige Partizipation so vieler Akteure aus Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft möglich, die die Grenzregion nicht nur in ihrer Vielfalt erst ausmachen, sondern zu einem einmaligen Labor für ein bürgernahes Europa machen kann. Denn die Zusammenarbeit in einem der Kernräume des europäischen Integrationsprozesses ist immer auch Gradmesser des europäischen Projekts insgesamt. Wenn es hier hakt, wachsen die Zweifel am Gelingen der europäischen Idee, wenn es hier in großen Schritten vorangeht, können wir Modell für ein gelingendes bürgernahes Europa werden.      

 

 

Roland Theis ist Staatsekretär der Justiz und für Europa in der saarländischen Landesregierung sowie Europa-Bevollmächtigter des Saarlandes. Der gebürtige Saarländer ist deutscher und französischer Staatsbürger und hat Rechts- und Politikwissenschaft in Saarbrücken und Aix-en-Provence studiert. Nach dem Studium arbeitete Theis als Unternehmensjurist in einer deutsch-französischen Mittelstandsbank. Vor seinem Eintritt in die Landesregierung 2017 war Theis von 2009 an Mitglied des Saarländischen Landtags. Heute unterrichtet er an der Université de Lorraine sowie an der Université Paris Panthéon-Assas deutsches öffentliches Recht. 

     


[i] Der Saarländische Rundfunk berichtete in diesen Tagen viel von den Ereignissen an der Grenze. Eine gute Zusammenfassung gelang Lisa Huth: https://www.sr.de/sr/sr2/themen/politik/20200420_freundschaftsbruecke_kleinblittersorf_wieder_offen_100.html. Zugegriffen: 26. Januar 2021.[ii] Süddeutsche Zeitung (2020). Saarländer „angelt“ sich sein Baguette aus Frankreich. https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/gesundheit-voelklingen-saarlaender-angelt-sich-sein-baguette-aus-frankreich-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-200420-99-760064. Zugegriffen: 26. Januar 2021.[iii] Die infratest dimap-Umfrage des Saarländischen Rundfunks erschien am  11. Dezember 2020. Sie wurde in Luxemburg und der Moselle zwischen dem 2. und 4. Dezember 2020 unter 513 Befragten erhoben. Siehe dazu: https://www.sr.de/sr/home/nachrichten/politik_wirtschaft/saarlandtrend/saarlandtrend_2020/2020_saarlorluxtrend_uebersicht_100.html. Zugegriffen: 26. Januar 2021.[iv] Von dieser guten Zusammenarbeit zeugt auch der gemeinsame Gastbeitrag des Saarländischen Ministerpräsidenten Tobias Hans und des Regionalratspräsidenten Jean Rottner in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 14. April 2020: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/gastbeitrag-mehr-zusammenarbeit-an-der-grenze-16725182.html. Zugegriffen: 26. Januar 201.[v] Der Aachener Vertrag im Volltext: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/997532/1570126/c720a7f2e1a0128050baaa6a16b760f7/2019-01-19-vertrag-von-aachen-data.pdf?download=1. Zugegriffen: 26. Januar 2021.[vi] Der Beistandspakt im Volltext: https://www.saarland.de/SharedDocs/Downloads/DE/stk/2020-11-27-beistandspakt.pdf?__blob=publicationFile&v=1. Zugegriffen: 26. Januar 2021.[vii] Dylla, C. (2020). Großregion will Corona mit digitaler Hilfe eindämmen. https://www.sr.de/sr/home/nachrichten/politik_wirtschaft/grossregion_digital_gegen_corona_100.html. Zugegriffen: 26. Januar 2021.[viii] Informationen zur Gesundheitskooperation im Rahmen des Mosar-Abkommens: http://www.saarmoselle.org/rubrique.php?id_rubrique=2326&surligner=YToxOntpOjA7czo1OiJtb3NhciI7fQ==&langue=de. Zugegriffen: 26. Januar 2021.[ix] Siehe dazu: https://www.tf-grenzgaenger.eu/. Zugegriffen: 26. Januar 2021.[x] Die Abschlusserklärung des 17. Gipfels der Großregion sowie weitere Dokumente des saarländischen Gipfelvorsitzes: http://www.grossregion.net/Aktuelles/2021/XVII.-Gipfel-der-Exekutiven-der-Grossregion. Zugegriffen: 26. Januar 2021.[xi] Saarbrücker Zeitung (2020). Polizei kontrolliert über Grenzen hinweg. https://www.saarbruecker-zeitung.de/saarland/merzig-wadern/perl/grenzueberschreitende-grosskontrolle-der-polizei-im-dreilaendereck-bei-perl_aid-48874113. Zugegriffen: 26. Januar 2021.[xii] Saarbrücker Zeitung (2020). Französische und deutsche Beamte erwischen Betrüger. https://www.saarbruecker-zeitung.de/saarland/saarbruecken/deutsche-und-franzoesische-polizei-ueberfuehren-einen-kreditkartendieb_aid-54480547. Zugegriffen: 26. Januar 2021.[xiii] Einer von unzähligen Berichten über die mit den Grenzkontrollen verbundenen Probleme sowie politischen Spannungen: https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/coronavirus-grenzkontrollen-verstimmung-100.html. Zugegriffen: 26. Januar 2021.[xiv] Dadillon, Marie-Alix (2020). Contrôles aux frontières : une attestation unique. https://www.lalsace.fr/societe/2020/06/06/controles-aux-frontieres-une-attestation-unique. Zugegriffen: 08. Februar 2021.[xv] Mitteilung der Kommission vom 20. September 2017 „Stärkung von Wachstum und Zusammenhalt in den EU-Grenzregionen“: https://ec.europa.eu/regional_policy/de/information/publications/communications/2017/boosting-growth-and-cohesion-in-eu-border-regions. Zugegriffen: 26. Januar 2021.[xvi] Die Ergebnisse des business act Grand Est: https://www.grandest-ba.fr/wp-content/uploads/2020/07/business-act-grand-est-rapportvf-opti.pdf. Zugegriffen: 26. Januar 2021.[xvii] Les Echos (2020). Grand Est : un « Business Act » pour la relance. https://www.lesechos.fr/thema/dynamiques-regionales/grand-est-un-business-act-pour-la-relance-1256936. Zugegriffen: 26. Januar 2021.[xviii] Siehe dazu: https://iba-gr.eu/kategorie/werkstatt/. Zugegriffen: 26. Januar 2021. 

 

Impfschutz gegen die autokratische Grippe 

 


24.04.2020 - erschienen im Magazin FORUM 

Die massiven Einschränkungen freiheitlicher Grundrechte zur Bekämpfung der Pandemie stellen Rechtsstaat und Demokratie vor Herausforderungen. Ein Plädoyer für demokratische Kontrolle auch und gerade in Krisenzeiten.


Krisen sind die Zeit der Exekutive. Nur diese verfügt in Risikosituationen über die notwendigen Ressourcen und Fähigkeiten, schnell und effektiv zu handeln. Vielmehr hat sie sogar die Pflicht, das in Gefahr geratene Leben der Bürger zu retten und Katastrophen und Not abzuwenden.

Genau dies tun Bundes- und Landesregierung seit Beginn der aktuellen Krise. Und das wird von den Menschen mitgetragen. Angesichts der massiven Einschränkungen ihrer Freiheitsgrundrechte erleben wir eine bislang außerordentlich breite gesellschaftliche Akzeptanz und Unterstützung der von der saarländischen Landesregierung getroffenen, teils drastischen Maßnahmen zur Kontaktreduzierung. Das zeigt die vorhandene Bereitschaft der Bürger, zum Schutz des Lebens und der Gesundheit vieler Mitmenschen, Einschränkungen hinzunehmen. Doch dies ist nur ein Vertrauensvorschuss für die Regierenden.

Rechtsstaat und Demokratie in der Bewährungsprobe

Die Konzentration von Macht in den Händen der Exekutive ist in diesen Tagen so stark wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Auch unser Staatsverständnis steht deshalb vor einer großen Herausforderung. Denn erst recht und gerade in der Krise muss sich die Kraft des Rechtsstaats und der Demokratie erweisen. Der Schutzauftrag aller staatlichen Akteure gilt auch für diese beiden Grundpfeiler unseres Zusammenlebens.

Denn nur ein Blick in die Welt zeigt, dass für Autokraten und Diktatoren à la Orban und Madero die Verlockung in der Corona-Krise groß ist, die Angst der Menschen vor Krankheit und Tod zu nutzen, ihre exekutive Macht auszubauen und Kontrollmechanismen der Gewaltenteilung auszuschalten. Der Weg vom Infektionsschutzstaat zum Polizeistaat ist eben nicht weit.

Wenngleich es in Deutschland keine Anzeichen gibt, dass politische Akteure heute auch nur daran denken, die Krise hierfür auszunutzen, so müssen wir auf Gewaltenteilung und gegenseitige Kontrolle nicht nur vertrauen dürfen. Sie müssen vielmehr institutionell abgesichert und wetterfest gemacht werden. Ob Virus oder Naturkatastrophe, die nächste Krise kommt bestimmt. Daher gilt es, bereits jetzt die richtigen Maßnahmen zu ergreifen und nach der Krise die richtigen Konsequenzen in Grundgesetz und Landesverfassungen zu ziehen.

Kontaktreduzierung bedeutet auch Lähmung von Kontrollmechanismen

Dies beginnt mit einer richtigen Analyse der Situation. Denn das Machtmissbrauch ermöglichende Dilemma ist nicht nur ein rechtliches, sondern auch ein faktisches. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, der Zwang zur Vereinzelung und Kontaktvermeidung, lassen zwar die grundgesetzlich vorgegebenen Institutionen der laufenden demokratischen Kontrolle der Staatsgewalt unangetastet. Sie lähmen diese jedoch de facto erheblich. So kann derzeit keine politische Partei Versammlungen durchführen, keine große Demonstration wäre möglich, niemand könnte eine kritische Gruppe gründen, die sich gesellschaftlich relevanten Themen durch Präsenzversammlungen widmen, Papiere erarbeiten, sich treffen und damit politisch wirksam betätigen könnte.

Auch die Zivilgesellschaft ist gelähmt. Theater, Film- und Opernhäuser müssen schließen, Orchester und Musikergruppen dürfen nicht mehr proben, womit die Künstler im Kollektiv als kritische Masse, die der Politik den Spiegel vorhalten könnte, ebenso ausfallen. Das Parlament tritt nicht in Gänze zusammen; echten Bürgerkontakt der Abgeordneten gibt es fast nur noch online, und selbst die Justiz büßt an faktischer Wirkmacht ein, wenn der Zugang zum Recht – etwa durch Besuch einer öffentlichen Sitzung – de facto eingeschränkt ist.

Diese faktische Lähmung zentraler Diskurs- und Kontrollmechanismen wiegt umso schwerer, als genau diese jetzt dringend gebraucht werden. Denn derart massive Eingriffe in Grundrechte müssen Tag für Tag auf ihre Verhältnismäßigkeit überprüft und gegenüber den Bürgern neu gerechtfertigt werden müssen. Dafür braucht es kritische Öffentlichkeit und funktionsfähige demokratische Institutionen.

Die „Allmacht" der Virologen und das Informationsmonopol der Exekutive

Ein weiteres Problem – mittlerweile in regionalen und überregionalen Medien hinreichend beschrieben – ist dabei die mächtige, weil so entscheidungserhebliche und von den politischen Entscheidern und der Öffentlichkeit schwer zu hinterfragende Einschätzung der Virologen. Damit hier kein falscher Zungenschlag entsteht: Die Angehörigen dieser Zunft haben sich nicht in diese Rolle gedrängt; es ist das Zusammenspiel der Umstände, die diese Berufsgruppe derzeit allmächtig erscheinen lässt.


Diese Einseitigkeit ist unter mehreren Gesichtspunkten problematisch. Zum einen sind Wissenschaftler demokratisch nicht legitimiert. Ihre Entscheidungen orientieren sich naturgemäß an dem einseitigen Ziel der Seuchenkontrolle, sie treffen keine Abwägungsentscheidungen unter Berücksichtigung verschiedener grundrechtlicher und staatlicher Interessen. Das hingegen ist die Aufgabe der Politik, die jedoch – bislang für mich verständlich, nachvollziehbar und nicht zu kritisieren – ihre Entscheidungen vorwiegend am Expertenrat der Virologen ausrichtet.

Zum anderen ist die Allmacht der epidemiologischen Sachverständigen für eine demokratische Gesellschaft schwierig, weil ihr Rat ein wissenschaftlicher ist und daher nicht für jeden – den Autor dieser Zeilen eingeschlossen – verständlich und nachvollziehbar. Das macht die Debatte über die Ratschläge schwierig, weil im wahrsten Sinne des Wortes die wenigsten wirklich „mitreden" können. All dies untergräbt die Akzeptanz und lässt Verschwörungstheoretikern genauso Raum wie potenzieller Manipulation.

Gute politische Kommunikation ist auf diese Probleme nur ein Teil der Antwort. Ansprachen wie die der Bundeskanzlerin am 18. März oder die permanente Kommunikation der saarländischen Landesregierung helfen sicherlich, Vertrauen zu schaffen und politische Entscheidungen für die davon betroffenen Bürger nachvollziehbar zu machen. Das Defizit an demokratischer Kontrolle in Zeiten der Krise vermögen jedoch von der Regierung herausgegebene Publikationen – ob Informationen oder Ansprachen wie die erwähnte – nicht hinreichend zu beheben. Sie sind nur notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung dafür, dass ein breiter, heterogener öffentlicher Diskurs über die ergriffenen Maßnahmen möglich wird und daraus im Zusammenspiel mit Medien und demokratischen Institutionen eine offene Debatte und demokratische Legitimation entstehen kann.

Demokratisierung der Informationen und permanente Transparenz

Die Krise zeigt gerade, dass dies nicht ausreicht. Notwendig ist vielmehr, dass von der übermächtigen Exekutive unabhängige, heterogen besetzte Gremien die faktische Machtverschiebung wieder austarieren können. Notwendig ist, dass die unmittelbar demokratisch legitimierten Parlamente eine stärkere Rolle einnehmen. Notwendig ist, dass diese den Bürgern die Informationen, Einschätzungen und Erkenntnisse, die die Tatbestandsvoraussetzungen für die Notwendigkeit der ergriffenen Maßnahmen und damit deren Verhältnismäßigkeit bilden – unabhängig von der Regierung – permanent, niedrigschwellig und transparent zugänglich machen. Nur so wird ein offener gesellschaftlicher Diskurs zwischen Bürgern, Praktikern verschiedener Professionen, Wissenschaftlern und Staat untereinander möglich.

Möglich könnte dies werden durch die technischen Segnungen der digitalen Welt, durch die wir demokratische Kontrolle und kritische Öffentlichkeit auch – für einen hoffentlich nur kurzen Zeitraum – ohne Demonstrationszüge und Bürgerversammlungen herstellen können. Möglich ist dies, wenn auf parlamentarischen Servern unabhängige Wissenschaftler ihre Zahlen und Erkenntnisse Tag für Tag aktualisieren, so dass die Bürger auf pluralistischer, demokratisch kontrollierter Basis Zugriff auf die erforderlichen Informationen haben.

Die „Krisenenquête" sichert ‚Checks and Balances‘ auch in der Not

Dabei müssen Parlamentarier und Bürger auf einer solchen Plattform permanent die Möglichkeit zum Nachfragen und Hinterfragen haben. Unsere parlamentarische Demokratie bietet dafür grundsätzlich passende Instrumente. Wir müssen sie nur in der Krise ausbauen, zum Einsatz bringen und nach der Krise für die Zukunft verfassungsrechtlich absichern. Bereits heute tagt ein permanenter Ausschuss des Landtags, dem Regierungsvertreter regelmäßig Rede und Antwort stehen. Angesichts der massiven Machtkonzentration in den Händen der Regierung muss dieser jedoch mit stärkeren Informationsrechten ausgestattet werden. Nicht aus Misstrauen gegenüber den politischen Akteuren, sondern um „Checks and Balances" durch Waffengleichheit und Augenhöhe zwischen erster und zweiter Gewalt zu schaffen. Dies könnte etwa nach den Regeln der Beweiserhebung in einer Enquête-Kommission geschehen. Diese „Krisenenquête" lädt Regierungsvertreter, Experten aus Medizin, Wirtschaft, Recht und Gesellschaft ein und tagt permanent, um eine zeitnahe Nachverfolgung der Krisenentwicklung und damit auch demokratische Kontrolle zu ermöglichen. Dessen öffentliche Sitzungen müssten die Bürger per Livestream verfolgen können. Fragen der Bürger könnten von Regierungsvertretern und anderen Experten kanalisiert und strukturiert beantwortet und – ja auch! – kontrovers diskutiert werden.

Auch in der Krise gilt: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!

Eine weitere Absicherung, die wir nach der Krise in unsere Verfassungen einbauen müssen, ist die Pflicht der Exekutive zur zügigen parlamentarischen Legitimation der wesentlichen Entscheidungen. Dies darf selbstverständlich nicht dazu führen, dass staatliches Handeln zum Schutz der Bürger gelähmt oder verzögert wird. Ähnlich wie in anderen rechtlichen Konstellationen wie etwa beim Auslandseinsatz der Bundeswehr, wo bei Gefahr im Verzug gleichwohl die vorherige Unterrichtung des Parlaments vorgeschrieben ist und über die beabsichtigen Maßnahmen und die unverzügliche Nachholung der Einholung der Zustimmung durch das Parlament zwingend ist. Eine solche Vorschrift ist auch für Krisen wie die heutige notwendig. Jede demokratische Regierung ist gut beraten, bei derart drastischen Maßnahmen so schnell es geht die Rückendeckung des Parlaments einzuholen. Und genau das geschieht derzeit im Saarland. Aber auch hier gilt der alte Satz vom guten Vertrauen und der noch besseren Kontrolle. Je schneller das Parlament – trotz aller Erschwernisse der Kontaktminimierung – durch Gesetzgebung wesentliche Entscheidungen auf eine starke demokratische Grundlage stellt, desto geringer ist die Ansteckungsgefahr unserer Demokratie mit der autokratischen Grippe.



Demokratischer Diskurs führt zu Akzeptanz und besserem Infektionsschutz

Mancher mag meinen, dass Regierungen und Wissenschaftler derzeit Wichtigeres zu tun hätten, als Bürgeranfragen in Ausschüssen zu beantworten. Sicher ist dies eine zusätzliche Belastung für Behörden und alle Akteure, die ohnehin gerade viel zu tun haben. Dennoch braucht es dieses institutionalisierte Hinterfragen und diese permanente Transparenz auch ganz praktisch, um die Akzeptanz der Maßnahmen zur Bekämpfung der explosionsartigen Verbreitung von Covid-19 in der Bevölkerung aufrechtzuerhalten.

Nur wenn die Bürger sicher sein können, dass das, was ihnen an Eingriffen in ihre Grundrechte derzeit abverlangt wird, uns alle dem Ziel, unsere Gesundheit zu schützen und Leben zu retten, näherbringt, werden sie die staatlichen Vorgaben auch tatsächlich befolgen. Denn klar ist: Die Menschen werden sich nicht ohne Einsicht in die Notwendigkeit gängeln lassen, die politischen Entscheider müssen sich jeden Tag aufs Neue überprüfen, nachjustieren und die Bürger von den dann getroffenen Maßnahmen überzeugen können.

Die nächste Krise kommt bestimmt. Sind wir immun gegen die autokratische Grippe?

Es braucht diese Instrumente demokratischer Kontrolle und Transparenz aber auch, damit unsere freiheitliche Demokratie keinen Schaden nimmt. Ich habe großes Vertrauen in die heutigen Akteure in dieser Krise. Aber wer sagt uns, dass dieses Szenario nicht zur Blaupause für die Errichtung autokratischer Systeme wird? Wer sagt uns, wer uns in der nächsten Krise regiert?

Wir müssen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung gegen die autokratische Grippe impfen, zu der Krisen wie die derzeitige führen können. Damit müssen wir bereits jetzt beginnen. Und dafür müssen wir nach der Krise die notwendigen Verfassungsänderungen auf den Weg bringen, die unsere Demokratie immun gegen die autokratische Grippe machen.